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UPDATE AM TEXTENDE: Radio-Interview zum Beitrag (19.08.2013)
UPDATE: Zur englischen Übersetzung des Artikels (20.08.2013)
Was die Onlineausgabe der Zeit am 16.08.2013 zur „Schutzsperre“ des IOC für Athleten während der Olympischen Winterspiele in Sotschi im Februar 2014 berichtet, ist ein Skandal und stellt vieles, was internationale Sportverbände schon verbockt haben, noch in den Schatten. Es ist der perverse Höhepunkt verbandlichen Opportunismusses gegenüber einer Scheindemokratie, in der bürgerliche Grundfreiheiten seit Langem wieder beliebig und offensichtlich mit Füßen getreten werden – unter den Augen der Weltbevölkerung. Aus nackter Angst knickt das IOC ein und reißt sich das zarte Mäntelchen, welches es bislang über seine eigene Homophobie gelegt hat, entschlossen herunter: Es ist die Furcht vor Verhaftungsmeldungen olympischer Teilnehmer wegen eines Verstoßes gegen das „Gesetz gegen homosexuelle Propaganda“, welche die im Übrigen rosarote und weichgespülte Sportberichterstattung (nur abgesehen von den üblichen Dopingskandalen, an die wir uns aber zwischenzeitlich schon gewöhnt haben) und damit zukünftige Vermarktbarkeit der Spiele stören könnten. Denn es besteht kein Zweifel, dass Russlands Regierung das „Gesetz gegen homosexuelle Propaganda“ auch gegenüber ausländischen Sportlern durchsetzen und diese – mit Geldstrafen – bestrafen würde. Die zu erwartenden üblichen internationalen Proteste würden die Chefs im Kreml noch entspannter ignorieren als das mächtige Getue der USA wegen der Gewährung von Asyl an Edward Snowden. Das Haupthandlungsmotiv des IOC liegt klar auf dem Tisch: Selbst von unseren Sportlern lassen wir uns unsere schönen Spiele nicht stören. Dahinter liegt wieder einmal nur eines: monetäre Interessen.
Pervers und obszön – anders lässt sich die juristische Fehlleistung nicht mehr beschreiben – ist in diesem Fall aber die Argumentation, der sich das IOC verschlichen hat:
„Das Internationale Olympische Komitee (IOC) droht an, Sportler von den Spielen auszuschließen, die während der Winterspiele in Sotschi im Februar 2014 für die Rechte Homosexueller demonstrieren. Das sei keine Sanktion, sondern ein Mittel, um Athleten zu schützen, die sich sonst zu einer politischen Aussage gezwungen fühlen könnten. […] Proteste oder Demonstrationen in Bezug auf das Ende Juni unterzeichnete Gesetz gegen ‚Homosexuellen-Propaganda‘ werde das IOC nicht akzeptieren.“ (IOC-Sprecherin Sandrine Tonge, zitiert nach Zeit online, s.o.)
Zur Rechtfertigung beruft sich das IOC auf Art. 50 der Olympischen Charta. Diese lautet (im englischen Original):
Advertising, Demonstrations, Propaganda
- The IOC Executive Board determines the principles and conditions under which any form of advertising or other publicity may be authorised.
- No form of advertising or other publicity shall be allowed in and above the stadia, venues and other competition areas which are considered as part of the Olympic sites. Commercial installations and advertising signs shall not be allowed in the stadia, venues or other sports grounds.
- No kind of demonstration or political, religious or racial propaganda is permitted in any Olympic sites, venues or other areas.
Nr. 3 von Art. 50 verbietet, das muss man zunächst festhalten, „Demonstrationen“ oder politische, religiöse oder ethnische Propaganda. Wichtig ist, dass – nach der grammatikalischen und systematischen Auslegung der Norm – Art. 50 Nr. 3 nicht jede „Werbung“ (was das englische Wort „propaganda“ im wirtschaftlichen Bereich – wie im Deutschen – auch bedeuten kann) verbieten will. Denn kommerzielle Werbung und dergleichen ist ausdrücklich in Nr. 1-2 geregelt. Der Regelungsgeber meint „propaganda“ im deutschen Propaganda-Sinne, also einer einseitigen Stimmungs- und Meinungsmache. Nr. 3 von Art. 50 der Olympischen Charta verbietet damit also eindeutig nicht jede Meinungsäußerung durch Sportler, sondern eben nur „Propaganda“. Dies leuchtet auch ein. Sonst wäre es den Sportlern ja auch verboten, einen religiöses Symbol offen zur Schau zu tragen, sich vor den Wettbewerben zu bekreuzigen oder etwa ein T-Shirt „Peace“ unterzuziehen, das nach einem Siegeslauf sichtbar wird. Schon die vom IOC gewählte Ermächtigungsgrundlage greift also nicht ein. Erstaunlich ist, wie willfährig auch der Internationale Leichtathletik-Verband im blinden Gehorsam russisches Falschrecht durchzusetzen hilft.
Erschreckend ist allerdings, dass das Telos dieser Norm durch ihre angedachte Anwendung in unfassbarer Weise auf den Kopf gestellt wird. Selbstverständlich dient Nr. 3 von Art. 50 nach dem Willen des Normgebers im Wesentlichen zwei Zielen: Wahrung von Neutralität (auch der Spiele) während der Spiele und natürlich dem Schutz von Minderheiten vor Diskriminierung. Die Sperre eines Athleten wegen seines Eintretens gegen die Gefährdung von Minderheitenrechten auf Grundlage einer Norm, die Minderheitenschutz mit bezwecken will, ist nicht nur widersinnig, anstößig und unerträglich, sondern offenbart eklatante Denkfehler bei den verantwortlichen Entscheidungsträgern: Sie erliegen einem klassischen logischen Zirkelschluss, der juristischen Erstsemestern vielleicht noch passieren mag, allerdings in einem Gremium mit dem Qualitäts-, Ethik- und Moralanspruch eines IOC tunlichst vermieden werden muss. Auch der Aspekt der Neutralitätswahrung trägt hier nicht: Das Eintreten für etwas, das auch das IOC zum Standard für seine Spiele erklärt hat, nämlich die Gleichheit aller Teilnehmer unabhängig von Herkunft, Geschlecht und sexueller Orientierung, gefährdet eben deswegen die Neutralität der Spiele gerade nicht, sondern ist zudem zutiefst im Olympischen Gedanken selbst verwurzelt. Wer noch einen rechtlichen Standard heranziehen möchte, mag in die Europäische Menschenrechtskonvention schauen, die über Artt. 14, 8 EMRK auch die sexuelle Orientierung schützt. Zu häufig vergisst man in der jüngeren Zeit, dass auch Russland Mitglied der Konvention ist.
Die Verwendung des Wortes „Schutz“ durch das IOC im Zusammenhang mit dem Ausschluss von Olympischen Spielen ist hier darüber hinaus besonders obszön. Ein Ausschluss wird nicht deswegen zum Schutz, nur weil man ihn so nennt. Auf die materielle Wirkung kommt es an. Und die ist und bleibt ein Entfernen Unliebsamer und hat mit Schutz rein gar nichts zu tun. Schutz verdienen – durch ein aufgeklärtes und konsequentes IOC – schwule, lesbische, – nein, unabhängig davon – alle Sportler, die sich durch ein Bekenntnis gegen ein konventionswidriges Gesetz aus der Steinzeit einsetzen. Mit dem angekündigten Ausschluss dieser Sportler von den Olympischen Spielen tut das IOC aber nur genau eins: Es setzt dieses menschenrechtswidrige Gesetz Russlands um und durch. Geschützt werden zum einen russische Interessen, nämlich die Anerkennung (wenn nicht sogar Legitimierung) des seinerseits erlassenen Unrechts durch die olympische Gemeinschaft. Zum anderen hat auch das IOC ein Interesse: Strafrechtliche Verfolgung von Athleten während der Spiele ist eben nicht schön. Diese eigenen Werten zuwiderlaufende Compliance des IOC ist schamlos, weil sie rechtswidriges eigenes Handeln als Fürsorge gegenüber den Sportlern zu maskieren versucht. In Wirklichkeit sind die Sportler, die aufgrund ihrer Orientierung oder ihres Mutes dem Schutz bedürfen, sowohl der russisches Staatsmacht als auch ihrem eigenen IOC schutzlos ausgeliefert.
Das Verhalten des IOC ist peinlich und unentschuldbar. Wer sich seine Grundwerte (und überwiegend weltweit geltende Grundsätze) so billig abkaufen lässt, hat seinen eigenen olympischen Auftrag nicht verstanden. An Staaten, in denen mit so etwas zu rechnen ist (was Russland leider ist), dürfen Olympische Spiele nicht mehr vergeben werden. Für Fälle wie den vorliegenden muss ein Ersatz-Veranstaltungsort feststehen, auf den man zurückgreifen kann, falls – wie hier offensichtlich – ein Plan B erforderlich wird. Hierbei dürfen auch wirtschaftliche Verluste nicht im Vordergrund der Betrachtung stehen. Olympische Werte sind ideell. Sie machen reicher als Geld. Mit dieser angedachten Schutzsperre hat das IOC zu viel von seinem bisherigen Reichtum ausgegeben. Das muss auch personelle Konsequenzen haben. Die NOCs müssen dringend und endlich lautstark protestieren.
Update: Radio-Interview (19.08.2013) über den Artikel im „Bewegungsmelder“ auf „Kölncampus.“
Pingback: The IOC acts perversely and shameless [ENGLISH] | Dr. Jan F. Orth, LL.M.