Der wichtige Schritt von Thomas Hitzlsperger offenbart bemerkenswerte Innenansichten in den deutschen Fußball. Ein Debattenbeitrag.
Man sollte meinen, dass die zahllosen öffentlichen Äußerungen zu Thomas Hitzlsperger eine Reaktion auf sein Interview in der Zeit (aktualisiert: 14.01.2014, nachdem nunmehr die Komplettansicht des Interviews online ist) und die Videobotschaft auf seiner Homepage war. Sie waren es nicht. Insbesondere die Boulevardpresse hat Thomas Hitzlspergers Äußerungen auf sein öffentliches Coming-Out als prominenter deutscher Fußballprofi und ehemaliger Nationalspieler reduziert. Obwohl dies ein wichtiger Aspekt ist, erschöpfte sich der Nachrichtenwert vielfach darin. Ich meine, dass es zu dem Interview von Thomas Hitzlsperger mehr zu sagen gibt und einigen Passagen bislang noch keine ausreichende Beachtung geschenkt worden ist. Mir scheinen für eine übertriebene Darstellung einige Dinge auch unangemessen beflügelt worden zu sein. Die angebliche „Kampfansage“ von Thomas Hitzlsperger etwa, ganz am Ende seiner Videobotschaft,
(„Wichtig ist es nur für die Leute, die homophob sind, andere ausgrenzen aufgrund ihrer Sexualität, und die sollen wissen, sie haben jetzt einen Gegner mehr.“)
klingt bei genauem Zuhören und lebensnaher Betrachtung eher sympathisch und defensiv als militärisch und aggressiv. Es überrascht daher nicht, dass Thomas Hitzlsperger nicht in die Ecke einer neuen „Schwulen-Ikone“ gedrängt werden will.
(K)ein außergewöhnliches Interview
Zunächst ist das Interview nicht außergewöhnlich. Thomas Hitzlsperger sagt vieles, das schon gesagt wurde. Viele schwule Männer haben Ähnliches ebenso empfunden und es ebenso artikuliert. Das ist ein wichtiger Schritt zur Selbstfindung, zur Identifikation mit der eigenen sexuellen Identität. Insoweit bleibt Thomas Hitzlsperger ein junger schwuler Mann wie jeder andere auch, der sich auf einen (sehr individuell längeren oder kürzeren) Weg gemacht hat, herauszufinden, wie er wirklich ist. Außergewöhnlich wird es trotzdem, weil Thomas Hitzlsperger es als herausstehender Fußballprofi, als eine öffentliche Person, sagt.
(Auch das kann man kritisch hinterfragen: Was sind wir für eine Gesellschaft, in denen Ansichten und Meldungen einen gesellschaftlichen Status deswegen erhalten, weil sie von einem Prominenten stammen oder ihn/sie betreffen? Rechtfertigt z.B. der unbestritten außergewöhnliche sportliche Erfolg von Michael Schumacher diese umfassende Berichterstattung über seinen Ski-Unfall und seinen Gesundheitszustand? Oder deklassieren wir damit die vielen anderen Ottonormal-Ski-Unfall-Opfer, die zeitgleich über ähnliche Verletzungen um ihr Leben kämpfen und deren Familien mit ebenso schrecklichen wie gleichfalls berichtenswerten Schicksalsfragen konfrontiert werden?)
Man kann diese Fragen beantworten, wie man mag. Sie lassen jedenfalls die Rahmenbedingungen der öffentlichen Äußerung von Thomas Hitzlsperger erkennen, welche ihm auch bewusst waren. Er hat sich nach professioneller Beratung bewusst der Medienlandschaft ausgesetzt – auch wenn immer noch niemand so recht erklären kann, warum die Homosexualität von Sportlern als deutsche Spezialität im internationalen Vergleich ein besonderes Lieblingskind der (Sport-)Journalisten ist. Vor diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache, wie „heiß“ dieses Thema in der öffentlichen Wahrnehmung bei uns seit jeher war, verdient der Schritt von Thomas Hitzlsperger öffentlich das immer noch Intimste, nämlich seine Sexualität, mit uns zu besprechen, den höchsten Respekt. Das gleiche gilt für seine Absichten –
„Ich möchte eine öffentliche Diskussion voranbringen – die Diskussion über Homosexualität unter Profisportlern. Ich möchte dazu beitragen, indem ich einmal öffentlich darüber spreche, dass die sexuelle Orientierung eines Sportlers wieder seine Privatangelegenheit wird, weil es auf diesem Gebiet einfach nichts Unnatürliches gibt.“ (Thomas Hitzlsperger in der Zeit.)
Auch wenn ihm – soweit sind wir ja mittlerweile doch in Deutschland – ein Stigma sicherlich nicht mehr anhängen wird, ist die Aussicht, von dummen Kollegen oder ewig-gestrigen Stammtischlern mit „kleinen Widerlichkeiten und Anzüglichkeiten“ (E. Schapira) – die kommen werden! – diffamiert zu werden, kein wünschenswerter Ausblick. Aus diesem Grund verdient sein Beitrag, die Beflügelung der öffentlichen Diskussion durch ein Interview mit höchster Wahrnehmung, großen Applaus.
„Homosexualität wird im Fußball ignoriert“
Thomas Hitzlspergers Interview-Feststellung „Homosexualität wird im Fußball schlicht ignoriert.“ ist zu widersprechen, weil sie so nicht stimmt. Sicherlich, Totschweigen und Ignorieren sind beliebte Methoden zur Behandlung unliebsamer und hochkomplexer Themen. Interessanterweise widerspricht Thomas Hitzlsperger sich an dieser Stelle selbst. Was die Wahrnehmung und Behandlung von Schwulsein im Profifußball angeht, weist das Interview auf spannende Inkonsistenzen hin. Indem ich darauf ganz vorwurfsfrei hinweise, offenbart dieses Spannungsfeld eine unglaubliche Ambivalenz mit dem Thema. Dass Ignoranz nur eine Spielart im professionellen Fußball ist, mit Homosexualität umzugehen, ergibt sich aus den Darstellungen von Thomas Hitzlsperger selbst. Er beschreibt aggressive Ablehnung als Umgangsform, als er in seinem Zeitinterview nicht nur mit „dumme[n] Sprüche[n], dumme[n] Witze[n]“ Formen der verbalen, mit der „Aufforderung zur Ausgrenzung“ der psychischen und mit der „Aufforderung zur Gewalt“ schließlich sogar Formen der brachialen Gewalt beschreibt. Auch dieser Befund ist vernichtend und zeigt welche erheblichen Führungsdefizite bei Verantwortlichen bestehen, die solche Szenen in Profikabinen zulassen (möglicherweise ja auch in England oder Italien und nicht zwingend in Deutschland). Arbeitsrechtlich ist das nichts anderes als Mobbing, und selbstverständlich sind Führungskräfte verpflichtet einzuschreiten, wenn es zu so etwas kommt – wenn diese Führungskräfte die entsprechende Kompetenz mitbrächten. Hier ist mit Sicherheit ein weiterer Ansatzpunkt für die Aus- und Weiterbildung auch von Trainern und anderen Mannschaftsverantwortlichen gegeben. Hiernach tut es gut zu erfahren, dass es mit Bundestrainer Joachim Löw auch ein Positivbeispiel für Jemanden gibt, der sich sachlich-inhaltlich vernünftig und positiv mit diesem sehr persönlichen Thema seines Spielers auseinandersetzten konnte, auch wenn selbst dieser sich einst bemüßigt fühlte, in einem eigens arrangierten Interview der rumorenden Presselandschaft zu erklären, er sei nicht schwul und trage darüber hinaus auch kein Toupet.
An welche Umgangsform man nun gerät, sei es Ignoranz im Sinne von „Ignorieren“ und Totschweigen, sei es Ambivalenz (ich nicht, bei anderen okay), sei es Ablehnung oder sei es positive Unterstützung und ein sensibler Umgang, ist Zufall. Das ist der eigentliche Skandal! Ich habe schon immer gesagt, dass ich überzeugt bin, dass es in den Vorständen der besten Clubs und der herausgehobenen Verbände (auf nationaler und internationaler Ebene) hervorragende, gebildete, liberale und offene Persönlichkeiten gibt, die wirklich dazu stehen, wenn sie einem Fußballer, der sich als Aktiver outet, allen nur möglichen Support zusagen. Ich glaube ebenfalls, dass diese Leute vollkommen offen im alltäglichen Umgang mit Schwulen und Lesben sind und vernünftige Ansichten über die alltägliche Relevanz der sexuellen Identität eines anderen Menschen haben. Und ich fühle – würde es verlangt werden –, dass diese Persönlichkeiten sich tatsächlich schützend und unterstützend vor einen schwulen Fußballprofi stellen würden, indem sie zumindest die Position vertreten, dass Schwul- oder Lesbischsein als Selbstverständlichkeit in unserer modernen Gesellschaft anerkannt ist. Allerdings gibt es hier zweierlei anzumerken: Erstens kam es zu einem Test, ob dies alles vielleicht doch nicht nur Lippenbekenntnisse sind, bislang nicht. Und zweitens: Wie wir spätestens jetzt genau wissen, gibt es im Fußball auch viele andere.
Dennoch, und das ist ein ermutigender Gedanke: Ob man an sozialkompetente oder -inkompetente Mannschaftsverantwortliche gerät, sollte zukünftig keine Frage des Zufalls mehr sein, sondern vielmehr eine Frage der richtigen Schulung und Auswahl. Wie schon bislang wird bei der Auswahl des Cheftrainers und des Trainer-/Betreuerstabs in den Profivereinen nicht allein auf die wichtige Fußballkompetenz geschaut werden dürfen. Sie bleibt sicherlich das Hauptauswahlmerkmal. So wie sich aber der Fußball und die Fußballspieler professionalisiert haben, so muss sich auch die Clubleitung und das Funktionsteam professionalisieren und sich durch Aus- und Weiterbildung in Mitarbeiterführung (einschließlich Diversityaspekten) den modernen Herausforderungen stellen. Das fordert alleine ihre Stellung als Arbeitgeber(vertreter) oder leitender Angestellter.
Diese Sozialkompetenzen müssen natürlich auch unbedingt in den Jugendbereich der leistungsorientierten Vereine sowie die Leistungszentren transportiert werden. Fragestellungen zur eigenen sexuellen Identität ergeben sich häufig mit besonderer Intensität in der Pubertät. Professionelle Ausbildungszentren schulden den Jugendlichen nicht nur eine hervorragende fußballerische Ausbildung, sondern auch eine pädagogische Betreuung, die bei allem Fokus auf das künftige Ziel als Profifußballer auch auf Sorgen und Nöte eingehen kann, die je nach Leidensdruck existenziell werden können.
„Eine Fußballmannschaft ist keine Selbsterfahrungsgruppe.“
Der Satz von Thomas Hitzlsperger, dass eine Fußballmannschaft keine Selbsterfahrungsgruppe ist, muss sich für den Idealisten im Breitensport wie eine Bankrotterklärung des deutschen Fußballs lesen. Denn sportliche und persönliche Selbsterfahrung ist einer der zentralen Werte unseres Fußballs. Dafür haben wir Mannschaften. Wir schicken unsere Jungen und Mädchen in Fußballvereine, die – darüber hinaus in den Dorf- oder Stadtteilgemeinschaften als sozialer Ort und Hort– eine wichtige Erziehungsaufgabe wahrnehmen. Und gerade in ihren Fußballmannschaften, in denen man wie an keinem anderen Ort beäugt, kritisiert, unterstützt, karikiert, gehalten, getragen, geprägt, ja, gehasst und geliebt wird, lernen viele junge Menschen fürs Leben und entwickeln sich alleine dadurch, dass sie „die Sporthosen anhaben“ und auch eine Menge Gemeinschaftskabinenerfahrungen gemacht haben, regelmäßig zu jungen Persönlichkeiten, die über eine überdurchschnittliche Sozialkompetenz verfügen.
Es gehörte schon ein ordentliches Maß an Naivität dazu anzunehmen, dass das Mannschaftsgefüge im Profifußball die gleichen Funktionen erfüllt. Dass es hier auf fußballerische (fußballtechnokratische?) Professionalität und höchste Konzentration auf die kommenden (Spiel-)Aufgabe ankommt, ist bekannt und das sagt auch Thomas Hitzlsperger. Ob es in Anbetracht der regelmäßig in Profifußball-Kabinen vorgefunden Talente zweckmäßig und empfehlenswert erscheint, tiefschürfende emotionale Befindlichkeiten zu besprechen, erscheint ebenfalls zu Recht mehr als zweifelhaft. Dass aber von den ursprünglichen Mannschaftswerten, die unseren Sport immer ausgemacht haben und als wichtige Erfolgsvoraussetzungen (wie etwa Zusammenhalt, Kameradschaft und Unterstützung) nach wie vor beschworen werden, allenfalls oberflächlich etwas übrig geblieben sein soll, stimmt nachdenklich. Aktuell endet mannschaftliche Kameradschaft offensichtlich spätestens bei der Frage nach der sexuellen Identität. Echter „Teamgeist“ scheint futsch, das „Team“ ist nur noch „Zusammenschluss von mehreren Personen zur Lösung einer bestimmten Aufgabe oder zur Erreichung eines bestimmten Zieles.“ (wikipedia).
Mir ist bewusst, dass wir uns hier in der professionellen Arbeitswelt befinden. Die Mannschaft im Profisport ist wohl mit der Mannschaft im untersten Amateurbereich nicht mehr zu vergleichen. Wo es um monetäre Einkünfte geht, sinkt das Vertrauen und die Offenheit gegenüber Vorgesetzten und Kollegen. Der Arbeitnehmer professionalisiert sein Image und sein Auftreten. Homosexualität würde hier wohl nicht nur als Makel, sondern als Angriffspunkt empfunden. Vorurteilsbehaftete Werturteile über mangelnde Kraft, unzureichende Männlichkeit oder gar Verweichlichung könnten Einfluss auf die Leistungsbeurteilung des schwulen Profifußballers durch die Mannschaftsverantwortlichen und auch die Mannschaftskollegen haben. Drohte uns in unserem professionellen Umfeld eine ähnliche akzentuierte Leistungsbeurteilung, würden wir alle wohl überlegen, ein angebliches Persönlichkeitsdefizit offen zu legen. Anderseits haben die großen Konzerne weltweit erkannt, wie wichtig ein offenes, multikulturelles, buntes und kreatives Betriebsklima ist, in dem auch ein Bereich für die freie Entfaltung der Persönlichkeit bleibt. Diversity wird großgeschrieben. Dies ist im Profigefüge des deutschen Fußballs offenbar noch nicht angekommen.
Dies ist vielleicht eine der wichtigsten Erkenntnisse, die aus dem Hitzlsperger-Interview zu gewinnen ist: Der deutsche Fußball wird sich bei Warnungen vor einem öffentlichen Coming-Out eines aktiven Fußballprofis nicht auf die bewährte (und wohl auch leicht diffamierende) Formel zurückziehen können, es würde das besondere Fan-Klientel in den Kurven sein, welches dem schwulen Profi das Leben zur Hölle machen würden. Nein, die kleinen Teufel stecken offensichtlich im System selbst: Es sind die homophoben oder einfach ahnungslosen Verantwortlichen und Kollegen, die den Arbeitsalltag zum Spießrutenlauf werden lassen können oder aus dumpfer Unkenntnis oder diffusen Ängsten homosexuelle Fußballer diskriminieren würden. Ich finde, Corny Littmann hat auf einen ähnlichen Umstand gerade erst auch vollkommen zu recht hingewiesen. Dass ist ein weiterer Aspekt, welcher das Interview von Thomas Hitzlsperger dem deutschen Fußball so unbequem macht. Er bekommt in unangenehmer Weise den Spiegel vorgehalten, in dem nun hässliche Schönheitsflecken ungeschminkt und deutlich zu erkennen sind. Anders ist auch die – um es euphemistisch zu formulieren – distanzierte Reaktion des FC Bayern München auch nicht zu verstehen. Der bemerkenswerte Satz
„Die Gesellschaft nimmt für sich in Anspruch, dass so etwas Normalität ist, und so sollten wir auch damit umgehen.“ (FCB-Mediendirektor Markus Hörwick, a.a.O.)
ist weder rhetorisch noch inhaltlich gelungen. Die aufgebaute Distanz zum Thema Homosexualität ist so groß, dass man förmlich spürt, wie groß die Formulierungsmühe des Sprechers war, um aber auch jeden Anschein zu vermeiden, der FCB habe Nähe zu irgendetwas, das mit „schwul“ zu tun hat. Er traut sich ja nicht einmal, das Kind beim Namen zu nennen. Und die gestelzte Formulierung „Die Gesellschaft nimmt für sich in Anspruch, …“ zeigt doch nur, dass der Sprecher für den FCB der Auffassung ist, dass Homosexualität (noch) keine gesellschaftliche Normalität ist, sondern eben erst (von wem?) in Anspruch genommen werden muss. Hier schwingt zumindest Befangenheit und mangelnde Souveränität, wenn nicht sogar missbilligende Bewertung mit.
Schnell zum Nicht-Thema machen
Das Thema zum Nicht-Thema oder die Thematik zum Nicht-Problem zu erklären, hilft indes nicht weiter und zeugt von einem bemerkenswerten Realitätsverlust. Dass Schwulsein heute so normal ist, dass wir damit alle kein Problem mehr haben, mag für liberal-fortschrittliche Köpfe tatsächlich eine Selbsterkenntnis und Selbstverständnis sein, verkennt allerdings total die herrschende Realität – und zwar sowohl im Fußball als auch in der Gesellschaft. Diese Politik, die leider auch in meinem Heimatverband, dem Fußball-Verband Mittelrhein (der im Übrigen nach bemerkenswertem Einstand in diesem Thema zwischenzeitlich jede Nachhaltigkeit vermissen lässt), aufrechterhalten wird, konterkariert die wichtigen Schritte, die in den vergangenen Jahren bereits in die richtige Richtung gegangen worden sind. Als Realität in Deutschland gilt, was Esther Schapira vom Hessischen Rundfunk in Ihrem exzellenten Kommentar (youtube-link, Wortlaut als Text hier dokumentiert) in den tagesthemen gesagt hat. Hier stimmt jedes Wort. Dem ist nichts hinzuzufügen. Auch jüngste Initiativen zur Verhinderung zeitgemäßer Sexualaufklärung im Schulunterricht legen von dieser gesellschaftlichen Realität ein beredtes Zeugnis ab. Von der, wenn auch kürzlich gelockerten, Position der katholischen Kirche einmal ganz zu schweigen.
Bis auf die Knochen blamiert hat sich hier auch der kicker, dessen Kommentar (hier dokumentiert) – allein auf weiter Front – eine erstaunliche Ansicht in die dortige Geistesarchitektur erlaubte: Diese Meldung sei keine. Das selbsternannte Fachblatt für Fußball in Deutschland agiert hier vollkommen ohne Fachwissen, ja nicht einmal mit Problembewusstsein. Das Schlimme ist, dass diese Auffassung wohl die breite Grundeinstellung in Fußballdeutschland in eindrucksvoller Weise dokumentiert. Die kicker-Redakteure, einschließlich ihres Chefredakteurs, bedienen natürlich Klientelkultur – nämlich eine solche, die ihre Leser abnehmen, akzeptieren und verinnerlicht haben. Sie bedient die ureigenen Interessen vieler Fußballfans und -funktionäre, die es aufgrund eigener Unsicherheit, Angst und Vorurteilen immer noch scheuen, sich mit dem Thema fundiert und nachhaltig auseinanderzusetzen.
Noch viel zu tun…
Der Weg muss auch im Sport dahin führen, dass die Aussage, schwul zu sein, genauso natürlich ist, wie mitzuteilen, dass man Vanilleeis mag. Gleichwohl wird hier natürlich immer ein fundamentaler Unterschied liegen, weil die eine Tatsache die Persönlichkeit ganz anders definiert als die andere. Auch wenn man sich nicht über seine (Homo-)Sexualität definiert, ist sie doch ein so wichtiger Bestandteil der eigenen Persönlichkeit, dass Ihre Unterdrückung bei anderen ein unvollständiges Bild entstehen lässt. Sie bedingt Emotionen und Sexualität. Beide Bereiche bestimmen unser Sozial- und Sexualgefüge, unser soziales Leben. Sie prägen unser Leben und definieren unseren individuellen Lebensplan und unser Lebenskonzept mit. Ich mag nicht in einer Gemeinschaft leben, die mir in diesen höchstwichtigen und höchstpersönlichen Bereichen Vorschriften macht oder Abstriche aufzwingt. Das muss gerade für den Sport gelten, der uns nicht nur gesund hält und Spaß bringt, sondern in dem eine Vielzahl unserer freundschaftlichen Kontakte entstehen.
„Der moderne Fußball ist kein Lebensraum für Gestrige und Leute mit angestaubten Vorurteilen.“ (Thomas Hitzlsperger auf seiner Homepage.) Solange aber einige grauhaarige Verbandsherrschaften bei dem Wort „schwul“ zusammenzucken, sich bei ihnen die Assoziation der „widernatürlichen Unzucht“ einstellt, die von Vorurteilen geschürte Vorstellung sexueller Hyperaktivität besteht oder plötzlich Begriffe wie „Kinderschutz“ fallen (Christoph Daum lässt grüßen), gibt es nicht nur im Fußball einiges aufzuräumen. Ich sehe den Fußball hier noch auf Jahre von der gewünschten Modernität entfernt – allerdings auf einem guten Weg und ohne schwarz zu sehen. Denn der gesellschaftliche Trend ist ein anderer. In der jungen Generation gehört Homosexualität zur selbstverständlichen Lebenswirklichkeit. Schwule und Lesben sind nach dem Verständnis des Nachwuchses alltägliches Inventar, sei es in Politik, Show Business, teilweise im Sport, aber vor allem natürlich auch im Fernsehen, in den TV-Serien und Spielfilmen. Ich erlebe den Umgang des Nachwuchses mit Homosexualität im Wesentlichen angenehm, interessiert und unbefangen – so normal eben, wie er sein sollte.
Die Reaktion des DFB
Die Reaktion von DFB-Präsident Wolfgang Niersbach auf das Coming-Out des Ex-Nationalspielers war mit Sicherheit nicht zu beanstanden. Wolfgang Niersbach fährt nicht ohne Grund, anders als sein Vorgänger, die „Fokus-Fußball-Politik“. Es ist sicherlich auch richtig, den Fußball nicht durch die fordernden und nicht zu unterschätzenden „weichen Themen“ dominieren zu lassen, sondern immer darauf zu achten, dass der eigentliche Sport nicht in den Hintergrund rückt. Ich kann indes nicht verhehlen, dass ich mir gleichwohl von meinem Verband etwas mehr erwartet hätte. Ein Verband, der noch im Jahr 2013 glaubt, das Homophobie-Thema mit einer im Ausgangspunkt uneingeschränkt lobenswerten Broschüre angehen zu müssen, die den Vereinsmitglieder und Kreisfunktionären gesellschaftliche Realitäten in puncto Partnerschafts- und Sexualgestaltung erst einmal als absolute Basics näher bringen und erklären muss, darf nach meiner Meinung eine solche Chance nicht ungenutzt verstreichen lassen. Es ist an der Zeit, das Thema aktiver anzugehen. Das erfordert von allen Beteiligten Mut. Auch ich bin dagegen, dass der Fußball zur schwul-lesbischen Interessenvertretung instrumentalisiert wird. Aber wegen seiner enormen Verbreitung und Bedeutung muss der deutsche Fußball sich den gesellschaftlichen Realitäten stellen und mit ihnen – in seinem Rahmen – angemessen umgehen, wie in vielen anderen schwierigen Bereichen (wie etwa Rassismus, Extremismus, Gewalt). An einer angemessenen Auseinandersetzung fehlt es in einigen Bereichen, nicht zuletzt auch aufgrund einer z.T. überholten Struktur und Besetzung. Es sind strukturelle Fragen, die hier dringend aufgearbeitet werden müssen. Der Umgang mit Homosexualität ist nur einer der Problembereiche.
Andere Reaktionen: Die ach so heile Welt
Fast alle Reaktionen auf das Coming-Out von Thomas Hitzlsperger waren positiv. Lob, Anerkennung, Respekt. „Kein Ding“ sei das heute mehr, so der allgemeine Tenor. Mit dieser Feststellung einer heilen Welt muss man sehr vorsichtig sein. Die Akzeptanz von Homosexualität in Deutschland ist mit Sicherheit generell nicht schlecht. Aber, wie hier schon mehrfach gezeigt wurde, gibt es nicht nur in Spezialbereichen wie dem Fußball immer auch noch große Baustellen. Normalität erreichen wir nicht dadurch, dass wir sie propagieren, sondern dadurch, dass wir sie alle wirklich leben.
Hitzlsperger ist nicht der Messias!
Das Coming-Out von Thomas Hitzlsperger, sein Beitrag zur Kulturdiskussion im Fußball und sein erklärter Kampf gegen Homophobie waren durchdacht und von einer Kölner Agentur hervorragend vorbereitet. Es handelt sich um einen professionellen Akt der Kommunikation mit der Öffentlichkeit, der gleichwohl nach der eigenen Rezeption von Thomas Hitzlsperger noch ungeahnte Reaktionsausmaße eingenommen hat. Allein dieser Umstand zeigt, wie sensibel und unbeherrschbar das Thema immer noch ist.
Thomas Hitzlsperger hat aufgrund seiner Biografie einen sehr wichtigen Beitrag für eine öffentliche Debatte gemacht. Wir haben von wichtigen Gefühlen, Leiden, Fragen und Handlungen erfahren, die bewegen und viele (auch bislang skeptische) Zeitgenossen zum Nachdenken bringen werden. Er hat uns eine bemerkenswerte Innenansicht in den deutschen Profialltag beschert, den wir sonst niemals erhalten hätten. Seine Aufklärung und seine Erklärungen über sein Erleben geben uns ausreichende Anleitung, die Dinge im Sinne einer toleranten Gesellschaft (in- und außerhalb des Fußballs) weiterhin zu verbessern. Das ist viel Arbeit. Deswegen ist Thomas Hitzlsperger (bei allem Mut und bei einem großen Verdienst) aber auch nicht der Messias oder Erlöser für schwule Männer und lesbischen Frauen im Fußball. Er hat aber für uns alle einen wichtigen Schritt nach vorne gemacht.
An die Arbeit!
Verdienst von Thomas Hitzlsperger ist die gemeinsame Chance, im Fußball Diskussion und Erkenntnis auf eine neue Ebene zu heben. Diese müssen wir nutzen. Die einwöchige Dauerpräsenz des Themas in allen Medien darf nicht als Strohfeuer verglühen. Endlich einmal ist Nachhaltigkeit wirklich gefragt: Wir brauchen eine Kulturänderung, strukturell wie inhaltlich. Die Kernideale unseres werteorientierten Sports müssen nicht nur endlich in allen Köpfen präsent sein, sie müssen auch gelebt werden. Soweit sich die Ideale decken, gilt dies selbstverständlich auch für die Gesellschaft in Deutschland. Gelingt uns das nicht, bleibt der Fußballprofisport in Deutschland eine wertdefizitäre Kommerzbastion – und wir als Gesamtgesellschaft eher eine gebietsmäßig verordnete Zweckgemeinschaft.
„Was wir brauchen, sind mehr mutige Männer und Frauen, die dafür sorgen, dass kein Mut mehr dazu gehört, man selbst zu sein.“ (Esther Schapira, a.a.O.)
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